Ein weiterer Schritt weg von europäischen Werten
Zum Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention
Am 19. März 2021 trat die Türkei aus dem Istanbul-Abkommen aus. Diskutiert wurde über den Austritt aus der Konvention, die Frauen vor Gewalt schützen soll, bereits seit Längerem, doch ca. zwei Wochen nach dem Internationalen Frauentag setzt Präsident Recep Tayyip Erdogan diesen nun auch um.
Die Istanbul-Konvention bzw. das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung sowie Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt wurde 2011 entworfen und von 45 Staaten sowie der Europäischen Union als völkerrechtlicher Vertrag unterzeichnet. Die Kernpunkte des Vertrages sind letztendlich die in der Verfassung verankerte Gleichstellung der Geschlechter, die Verbesserung von Hilfs- und Bildungsangeboten für Frauen, insbesondere in Form von Rechtsberatung, psychologischer Betreuung, Finanzberatung, Einrichtung von Frauenhäusern und Unterstützung bei der Arbeitssuche. Außerdem soll offensiv gegen psychische, physische und sexuelle Gewalt gegen Frauen vorgegangen werden (Art. 33 – 40).
Man könnte meinen, dass dies alles Punkte seien, die man innerhalb von Europa sowieso als selbstverständlich müsste ansehen können.
Die Istanbul-Konvention
Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfungvon Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
Europarat (CoE),
vom 11.05.2011
Die Türkei war am 14. März 2012 der erste Unterzeichnerstaat, der das Abkommen ratifiziert hat. Neun Jahre später kommt Erdogan den konservativen und islamistischen Kreisen des Landes entgegen, welche behaupteten, die Konvention fördere Scheidungen und schade der Einheit der Familie:
„Die Frau ist vor allem Mutter und die allererste Heimat des Kindes.“, so der türkische Präsident in einem Interview zum Internationalen Frauentag.
Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es landesweit Proteste. Nach dem endgültigen Ausstieg nehmen diese noch weiter zu, die Rücknahme des Dekrets wird gefordert, auch die Stimmen aus anderen Ländern werden lauter. Jurist*innen bezweifeln, dass Erdogan im Alleingang zum Ausstieg legitimiert sei und erwarten zumindest die nachträgliche Zustimmung des Parlaments.
Die Türkei ist dennoch nicht das einzige Land, das dem Abkommen skeptisch gegenübersteht. Kroatien machte 2018 in einem Vorbehalt geltend, dass es sich nicht dazu verpflichtet sehe, aufgrund des Abkommens, „die Gender-Ideologie in das kroatische Rechts- und Bildungssystem einzuführen“ (Vorbehalte und Erklärungen für Vertrag Nr. 210, declaration contained in the instrument of ratification deposited on 12 June 2018). Auch Polen hat erhebliche Vorbehalte gegen das Abkommen und tritt im Jahr 2020 aus. Der Vatikan hat das Übereinkommen nicht einmal unterzeichnet. Und in vielen Ländern erfolgte zwar die Unterzeichnung, aber das Inkrafttreten noch nicht, so z.B. in Bulgarien, Lettland, Liechtenstein, der Tschechischen Republik, Ungarn und im Vereinigten Königreich.
Aber stellt der Austritt aus dem Abkommen denn tatsächlich eine Verschlechterung der Wirklichkeit von Gewalt an Frauen in der Türkei dar? Laut der Organisation „Wir werden Frauenmorde stoppen“ wurde die Konvention in der Türkei nie umgesetzt.
Im vergangenen Jahr wurden mehr als 300 Frauen in der Türkei umgebracht, teilweise liest man von einem Femizid pro Tag oder sogar 50 Morden im Monat, Dunkelziffern könnten noch höher liegen (in Deutschland wird täglich von einem Mann versucht, seine (Ex-)Partnerin umzubringen, jeden dritten Tag gelingt dies). Täter würden bereits jetzt teilweise gar nicht oder zu milde bestraft werden (auch wenn Familienministerin Selcuk das Justizsystem dahingehend in Schutz nimmt). Trotzdem wird die Angst groß, dass diese Zahlen weiter steigen und Frauen als „Bürger [sic!] zweiter Klasse [angesehen] und getötet werden“, wie es Gökce Gökcen von der Oppositionspartei CHP formuliert. Häusliche Gewalt nimmt während der Pandemie natürlich auch in anderen Ländern stark zu, aber in der Türkei ist dieser Anstieg nicht nur pandemiebedingt.
Innerhalb der letzten fünf Jahre hat sich die Zahl an Femiziden sogar verdoppelt, der Höhepunkt war bereits im Jahr 2019. Angesichts dessen ein Zeichen wider Schutz und Bekämpfung frauenfeindlicher Gewalt zu setzen, scheint mehr als fragwürdig. Mörder, Belästiger und Vergewaltiger von Frauen würden nun noch mehr in ihren Taten bestärkt werden, merken Aktivistinnen an. Die Regierung sei sich dem Problem aber durchaus bewusst und hat deshalb die Überwachung von gewalttätigen Personen eingeführt. Außerdem wurde eine Smartphone-App ins Leben gerufen zur Alarmierung der Polizei. Diese wurde bereits hunderttausendfach von Frauen heruntergeladen.
Es bleibt trotzdem zu hoffen, dass der bislang unbegründete Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention rückgängig gemacht wird, um wenigstens den Anschein der Gewaltächtung aufrechtzuerhalten und somit das Leben tausender Frauen nicht noch mehr zu gefährden.
Chiara Dechering
Tipps zur Vertiefung:
Gewalt gegen Frauen:
https://www.dw.com/de/gewalt-gegen-frauen-mehr-femizide-in-deutschland/a-55562981
Austritt der Türkei:
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/tuerkei-istanbul-konvention-101.html
Autorin
Chiara Dechering
Direktorin S&C (Human Rights)